Samstag, 23. April 2016
Eine kurze Begegnung
Ich war auf der Rückreise von einer Woche Sylt-Urlaub und hatte am Bahnhof Hamburg Altona eine gute Stunde Wartezeit. Schwer bepackt mit Reisetasche und Rucksack, noch ein wenig enttäuscht von der Insel und etwas angewidert von dem Dreck und den Zuständen rund um das Bahnhofsgebäude, schleppte ich mich ziellos umher, immer auf der Hut vor eventuellen Handtaschendieben, vor denen ständig gewarnt wurde.

Vor dem Gebäude kam mir ein älterer, hinkender, ziemlich verwahrloster Mann entgegen. Er wirkte kränklich, hatte kaum mehr Zähne und zog sein ganzes Hab und Gut in einem alten Einkaufsroller hinter sich her. Einer von vielen Obdachlosen, ganz normal für dieses Viertel. Er rief mir zu: "Haben Sie ein bisschen Kleingeld für mich?"

Fast reflexartig drehte ich mich um, meinen Geldbeutel herauszunehmen, der Mann fing schon an, sich ironisch zu bedanken und mir einen guten Tag zu wünschen, da wendete ich mich Münzen-suchend an ihn und musste zu meinem Beschämen feststellen, dass ich ihm nur wenige Cent-Stücke geben konnte, nicht mal einen Euro insgesamt. Ich hatte nur noch große Scheine und das schien mir in der Situation damals unpassend.

Ich reichte ihm das Kleingeld mit der Entschuldigung, dass ich nicht mehr hätte. Da strahlte er mich schelmisch an und sagte: "Ich hatte Sie ja schließlich nicht nach ihrer Kreditkarte gefragt!" "Der war gut!" stieß ich hervor, und wir mussten beide so herzhaft lachen, wie ich während des ganzen Urlaubes nicht gelacht hatte.

Ich sah in zwei unglaublich blaue Augen, klar und tief wie ein Bergsee, und in diesem Moment begriff ich, dass wir alle gleich sind, alle von einer Quelle stammen und ganz tief drinnen miteinander verbunden sind.

Wir verabschiedeten uns herzlich - noch immer grinsend - er schlurfte davon, ich stieg in meinen ICE und suchte den reservierten Sitzplatz in der ersten Klasse.

Diese klaren blauen Augen jedoch werde ich nie vergessen.

Hilda P.


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