Sonntag, 27. März 2016
Das Märchen von der geschenkten Zeit
Passend zur "Zeitumstellung" möchte ich hier folgende Geschichte veröffentlichen, die ich kürzlich gelesen habe:

Es war einmal ein König und eine Königin, die hatten drei Töchter. Von der Ältesten sagten die Leute: Wie klug sie ist! Von der zweiten meinten sie voller Bewunderung: Seht, wie ist sie so fleißig! Wenn sie aber von der dritten sprachen, hellten sich ihre Gesichter auf: Sie ist so freundlich und sie kann so wunderbar lachen.

Eines Tages sagte die königliche Mutter: "Es wird nun Zeit, meine lieben Töchter, dass ihr das aus verlasst und die Welt kennenlernt." Einer jeden legte sie eine kunstvoll gewirkte Tasche über die Schulter, die war prall gefüllt. "Das ist eure Wegzehrung. Ich habe jeder von euch einen großen Anteil von meiner Zeit geschenkt. Geht sorgsam damit um. Mehr davon kann ich euch nicht geben."

Der Abschied war herzlich, und dann ging jede ihren Weg. Die Erste, die Kluge, war noch nicht weit gegangen, da hatte sie schon eine große Berechnung angestellt, wie sie ihre Zeit möglichst gewinnbringend anlegen könnte. "Gönn dir ein bisschen mehr von deiner Zeit", wisperten die Blumen am Wegesrand. "Wo denkt ihr hin", sagte die Kluge, "Zeit ist Geld, und das wirft man nicht auf die Straße." Und sie eilte davon, als hätte sie schon jetzt keine Zeit mehr.

Die Zweite, die Fleißige, hatte sofort eine Beschäftigung entdeckt und arbeitete hastig, denn sie wollte die Zeit ausnutzen. Da rollte ihr ein roter Ball zwischen die Füße, und ein Kind rannte herbei und fragte: "Spielst du mit mir?" "Jetzt nicht", sagte die Fleißige, "ich habe keine Zeit!" Ich muss heute schon die Arbeit von morgen machen." "Spielst du dann morgen mit mir?" "Das geht nicht. Da mache ich die Arbeit von übermorgen." "Und dann, hast du dann Zeit?" "Vielleicht, wenn nichts dazwischenkommt. Aber jetzt nimm deinen Ball und stiehl mir nicht die Zeit!" Da ging das Kind und wartete auf übermorgen.

Die dritte Tochter aber kam nicht weit, nur bis zu einer Bank am Ententeich. Dort saßen ein paar alte Leute und schwiegen sich aus, denn sie hatten einander schon alles erzählt, und etwas Neues fiel ihnen nicht ein. "Hast du ein bisschen Zeit? Komm, setz dich zu uns!" "Aber sicher", sagte die mit einem lachenden Gesicht. "Ich habe viel Zeit geschenkt bekommen. Davon kann ich euch doch abgeben", und sie langte in ihre Tasche und fragte die alten Leute nach ihrem Leben. Und die erzählten ihr viel, und als sie sich verabschiedet hatte, hörte sie sie von Weitem immer noch reden und lachen, denn es war ihnen noch so viel eingefallen, was sie beinahe schon vergessen hatten.

"Nach einem Jahr", hatte die Mutter gesagt, "kommt ihr noch einmal zurück und erzählt uns, wie es euch ergangen ist." Als das Jahr herum war, schickte die Älteste ein teures Blumengebinde mit einem kleinen Gruß daran: "Liebe Elten, habt Dank, aber ich kann euch nicht besuchen. Es wäre unklug. Der weite Weg zu euch würde mich zu viel Zeit kosten." Die Zweite kam in allerhöchster Eile und erzählte von der vielen Arbeit, die nun liegen bleiben musste, und war im Herzen schon wieder abgereist, ehe sie angekommen war. Die Dritte aber kam etwas zu spät, denn sie hatte unterwegs Blumen gepflückt, die sie der Mutter mitbringen wollte. "Hast du denn so viel Zeit übrig?!, fragte die Mutter. "Aber sicher", sagte die Tochter, "du hattest mir ja gar nicht verraten, dass die Tasche sich immer wieder füllt! Je mehr Zeit ich verschenkt habe, desto mehr fand ich darin."

"Du bist die Einzige", sagte die Mutter lächelnd, "die das Geheimnis der geschenkten Zeit erfahren hat."

Weisheitsgeschichte

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